Stresstoleranz

Alarmstufe rot ist, wenn alle Ampellichter 

gleichzeitig auf grün schalten.

© Brigitte Fuchs (*1951), Schweizer Autorin, Lyrikerin, Sprachspielerin

Das kennt wohl jeder Borderline-Betroffene, das stete Gefühl von "alles ist zu viel", Stress ist überhaupt in unserer heutigen Gesellschaft für kaum einen Menschen ein Fremdwort. Kurse zum Thema Stressbewältigung schießen aus dem Boden wie Pilze nach einem Regen.

 

Ich habe mir einige Gedanken dazu gemacht, was Stress so anders für einen Betroffenen der Borderline-Persönlichkeitsstörung macht. Ist er überhaupt für uns anders? Immerhin habe ich Ausbildungen in EFT (Emotional Freedom Technique) Autogenem Training und Traumreisen gemacht. Ich kann Menschen beibringen, sich zu entspannen. Mir selbst haben diese Techniken nie wirklich effektiv geholfen. Warum?

 

Intensiv, Extrem, radikal, das Leben am Abgrund

 

Es heißt, die Intensität der Gefühle sind für einen Borderline-Betroffenen etwa achtmal so intensiv wie bei einem "normalen" Menschen. Freude kann wie purer Sauerstoff durch den Körper fließen, Schmerz wie Feuer und Trauer wie schwarzer Nebel. Es gibt aber nicht nur die Intensität, sondern entscheidend ist auch die Schnelligkeit des Wechsels. Von einem Extrem ins Andere, von einer übersprudelnden Sektlaune in 5 Sekunden in die schwere bleierne Traurigkeit, das ist die Kunst der Borderline-Störung.

 

Im DBT wird die innere Spannung auf einer Skala von 1-100 eingeteilt. Der normale Stresslevel liegt bei einer Person in entspanntem Zustand zwischen 30 und 40. Bei Aufregung geht die Spannung auch mal auf 50-60 hoch. Und ab 70 spricht man von Hochspannung. Das ist ein Zustand, wo der Verstand kaum noch die Kontrolle hat. Dazu später mehr.

 

Man kann sich denken, dass kein Mensch permanent in einem Höchststand der Gefühle bleiben kann und so kommt dieses Gefühl der Leere zustande, das die meisten Betroffenen beschreiben. Sich selbst nicht spüren zu können, ist eine Qual. Um dieser Qual zu entkommen, nimmt man extreme Wege in Kauf. Es ist oft die Einladung zur Selbstverletzung. Nicht jeder Adrenalinjunkie leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, aber jeder Borderline-Betroffene ist auf die eine oder andere Weise ein Adrenalinjunkie.

 

Ein Borderline-Betroffener geht nicht entspannt in den Tag. Sein Spannungslevel liegt schon beim Aufwachen bei 40-50 und meistens steigert sich das über den Tag mehrmals in den Bereich der Hochspannung.

 

So reicht es eben nicht, einmal die Woche beim Autogenem Training ein bisschen runterzukommen und den Rest der Zeit entspannt mit neuer Kraft in den Alltag zu gehen. Wir müssen grundsätzlich lernen, die Spannung zu senken, sie mit vielen bewussten Übungen über den Tag auch niedrig zu halten und einen Ausweg auch aus der Hochspannung zu finden.

 

Spannungskurve im Ausnahmezustand

 

Auf einer Skala von 1-100 gibt es drei verschiedene Spannungsbereiche.

 

10-30 ruhig und ausgeglichen

30-70 normale Anspannung

70-100 Hochspannung (Gefahr der Selbstverletzung)

 

So beginnt das DBT-Training meist damit, regelmäßig über den Tag in sich zu gehen und zu schauen, wie hoch die Spannung gerade ist und dies in einer Kurve zu vermerken. (Ein Musterblatt finden Sie im Downloadbereich.)

 

Ich konnte im Verlauf der Zeit beobachten, dass die meisten Patienten zu Beginn erst einmal damit überfordert sind, jede Stunde aufzuschreiben, wie hoch die Spannung gerade ist. Zur Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört es eben nicht selten, dass man seine Aufmerksamkeit auf das Außen konzentriert. Damit ist es ungewohnt und anstrengend, jede Stunde zu schauen, wie es einem gerade geht.

 

Im Verlauf der Zeit allerdings merkt man, die Übungen tun einem gut und es verändern sich Dinge, weil man ein neues Gefühl für sich bekommt. Würde man mir heute so einen Bogen in die Hand drücken mit dem Hinweis, ich muss jede Stunde die Höhe der Anspannung vermerken, wäre es ungewohnt für mich, NUR jede Stunde nach meiner Befindlichkeit zu schauen.

 

Stresstoleranz in der Praxis

Zu Beginn fällt es eher schwer zu unterscheiden, wie hoch die Spannung gerade ist. Alles fühlt sich irgendwie gleich an und die Bereiche von 1-30 fühlt man gar nicht, da ist einfach nur Leere.

 

Darum beginnt jede Stresstoleranz mit Aufmerksamkeitsübungen. Erst mal nur hinschauen. Beobachten. Und das ganze ohne die Situation zu bewerten, denn gerade in der Bewertung schaffen wir uns immer wieder neuen Stress.

 

Diese Spannung ist eine Aktivierung des gesamten Organismus, abhängig von seiner Belastbarkeit,und den Erfahrungen. Abhängig von den Motiven und Denkmustern wird es individuell als Anforderung oder Bedrohung bewertet. Auch bei der Depression ist, nach meinen eigenen Erfahrungen, dieses innere Wechselspiel der Anspannung gestört und die Spannung ist nicht mehr in der Lage Aktionen anzustoßen. Und dieses Training hat mir durchaus auch geholfen, aus depressiven Phasen rauszukommen.

 

Stress und Körper

 

Bei dieser inneren Spannung sprechen wir durchaus auch von einem körperlichen Vorgang und damit von einer Reaktion, die auch auf dieser Ebene aufgefangen werden muss. Ein Rückzug in die Ruhe ist zwar eine gute Maßnahme, wird auf Dauer aber nicht das Stresslevel dauerhaft sinken - und Skills dienen wohl der kurzfristigen Erleichterung, sollen immer aber auch langfristig nicht schaden. Ein dauerhafter Rückzug aber tut uns nicht gut. Menschen können soziale Skills durchaus auch wieder verlernen.

 

So sind die Atemübungen gedacht, um auf körperlicher Ebene die Spannung zu senken. Und dabei unterscheidet der Körper nicht, ob es sich um "guten" Stress handelt oder um dysfunktionalen Stress. Jede Reaktion auf erhöhtes Input von Reizen stößt den gleichen Ablauf an.

 

Aus unserer Evolutionsgeschichte ergibt sich, dass wir auf drohende Gefahren blitzschnell reagieren mussten/müssen, entweder mit Flucht oder Angriff. Es folgt: eine Erhöhung der Herzfrequenz, die Atmung beschleunigt sich, die Muskeln werden angespannt (immer wieder bin ich auf Borderline-Betroffene gestoßen, die an chronischen Schmerzen leiden, ohne eine klare Ursache zu finden, in dieser permanenten Anspannung liegt eine Erklärung), der Blutdruck steigt, die Tätigkeit der Verdauungsorgane wird herabgesetzt (Verdauungsprobleme?).

 

Ich habe für mich gelernt, wie wichtig es ist, diese hohe Anspannung in Bewegung umzusetzen, denn der Körper erhält in diesem Moment die Botschaft von Flucht oder Angriff. Wenn man dann nicht reagiert, wird das Adrenalin nur langsam abgebaut, überflutet den Körper immer wieder und wird letztendlich gespeichert. Der Cortisolwert steigt. Entspannung ist schwer möglich. (Denken Sie auch daran, dass Alkohol, Kaffee, Tee, Schokolade und Bananen diesen Wert noch steigern.)

 

Weitere Skills im Alltagstest

 

Auch gelernt habe ich, meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Wenn ich merke, diese Sache klappt jetzt nicht so, wie ich mir das vorstelle, dann erlaube ich mir, alles fallen zu lassen und aus der Situation rauszugehen. Manchmal braucht man nur fünf Minuten sich auf etwas anderes konzentrieren (oder nur mal ein paar mal tief durchatmen!) und man geht mit neuer Kraft und vor allem Ruhe wieder an die Sache ran und es klappt viel besser.

 

Mir helfen mittlerweile auch To-Do-Listen. Ich muss dann nicht mehr im Kopf haben, was alles zu tun ist. Und bei dem Gefühl von Überforderung habe ich schnell eine Prioritätenliste daraus gemacht.

 

Und letztendlich hilft radikale Akzeptanz und ein Lächeln gegenüber der Welt. Gerade das letztere ist übrigens auch eine gute Übung für mehr Selbstwert. Ich darf auch mal über meine eigene Unzulänglichkeit lächeln. Es ist auch einfach mal schön, was nicht zu können und zu scheitern. Das macht einen menschlich.

Übung Atmen

Die Anspannung ist bei Borderline-Betroffenen schon beim Aufwachen sehr hoch. Warum also nicht an diesem Punkt gleich mit einer Übung beginnen?

 

 

Fünf Minuten lang ein- und ausatmen. Dabei sollte das Ausatmen möglichst doppelt so lang (besser dreimal so lang) dauern wie das Einatmen

Übung Pro und Contra

Entscheidungen zu treffen ist nie ganz leicht für einen Borderline-Betroffen. Da ist immer das Gefühl, es werden Türen zugeworfen. Und selten der Blick darauf, welche in diesem Moment geöffnet werden.

 

In solchen Momenten hilft eine Pro- und Contraliste. Üben Sie es im Kleinen, bei etwas, das keine großen Konsequenzen hat und bei dem Ihnen die Entscheidung nicht so schwer fällt. Das Gehirn muss diesen Weg erst anlegen (Skills sind keine Tiefflieger!) und Sie müssen Vertrauen zu dieser Technik finden.

Übung Ablenken

Bevor ich mit dem DBT-Training angefangen habe, kannte ich nur schwarz und weiß. Welch Wunder bei einem Borderline-Betroffenen. Entweder durchziehen oder gar nicht machen.

 

Ich erinnere mich, dass ich mit der Ergotherapeutin einen Stern gebastelt habe, der mir so gar nicht von der Hand gehen wollte und der Druck in mir stieg und stieg. Die Spannung hat mich schier zerrissen. Dann waren die zwei Stunden Therapie um und kaum war die Therapeutin außer Haus, flog das Ding in die Ecke.

 

Am nächsten Tag holte ich ihn wieder hervor und siehe da, es dauerte keine fünf Minuten und ich hielt das fertige Produkt in der Hand.

 

Jetzt übe ich mich im Rausgehen. Ich muss keine Sterne mehr in die Ecke pfeffern sondern geh und mache erst mal was anderes. Erstaunlich wie viel schneller einem die Dinge dann von der Hand gehen.