Das Geheimnis der Achtsamkeit

DBT-Trainer geben gerne Hausaufgaben. Und beim Thema Achtsamkeit sind Atemübungen besonders beliebt. So fand ich mich eines Tages auf Wohnzimmer-Couch wieder, einatmend, ausatmend. Ein. Aus. Ich kam mir albern vor und dachte genervt: "Jetzt sitze ich hier und vergeude meine Zeit mit Atmen!".

 

Aus heutiger Sicht war das ein sehr achtsamer Moment. Mein Fokus lag zwar nicht auf dem Atmen, wie es eigentlich gedacht war, dafür aber auf meinen Gedanken dazu. Ich habe sie ebenso wahrgenommen wie das Gefühl der Peinlichkeit. Es war mir peinlich, "Zeit für mich zu verschwenden".

 

Damals lag in dieser Beobachtung noch viel Bewertung. Es ist "eine Zeitverschwendung". Und "das hilft doch alles nichts". Das ist mir in den kommenden Monaten häufig aufgefallen, nicht nur bei mir, auch bei anderen. Scheinbar muss für jemanden mit einer Borderline-Störung immer alles einem Zweck dienen, einen Sinn haben.

 

Wenn ich da schon fünf Minuten sitze, nur atme, muss ich am Ende auch gesund sein. Eine Erkenntnis haben. Es sollte schon etwas dabei rauskommen. 

 

Achtsamkeit ist "zwecklos"

 

Dabei ist Achtsamkeit eben gerade nicht mit einem Zweck verbunden, hat kein Ziel außer "wahrnehmen", "beobachten", "hinschauen". In solchen Momenten steht nicht die Reflektion im Mittelpunkt, sondern das Tun und damit das "sich erden". Im Hier und Jetzt ankommen.

 

An diesem Nachmittag fiel mir zum ersten Mal bewusst auf, wie viel Bewertung in meinem Denken lag. Ich hätte doch meditieren können, meditieren klingt nach etwas Sinnvollem. Aber nur Atmen? Irgendwann fragte ich mich dann, nur wie bitte kann Atmen Zeitverschwendung sein? Wenn ich das nicht tue, tue ich auch nichts anderes mehr. Also warum verweigerte ich mir selbst etwas so essentielles wie Atmen - für nur diese unbedeutenden fünf Minuten? Warum bewertete ich es negativ, dass ich mir die Zeit dafür nahm?

 

Wahrnehmung braucht Ankerpunkte

 

Unsere Wahrnehmung der Welt hängt stark von unserer Interpretation ab. Wenn ich verliebt mit einem Partner durch die Straßen laufe, hat der leichte Sommerregen etwas romantisches. "Singing in the Rain" und Frank Sinatra kommen einem da in den Sinn. Der gleiche Regen hat nichts mehr mit frühlingsleichtem Tanz zu tun, wenn man sich gerade auf dem Weg zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch befindet.

 

Um also die Umwelt in den Bezug zu uns selbst zu setzen und sie korrekt einzuschätzen, brauchen wir, wie ich es nenne, kleine "Ankerpunkte" im Außen. ABER, und das ist für eine Person mit einer Borderline-Störung bedeutsam, eben auch im Innen.

 

Reizwahrnehmung versus Hyperviliganz

 

Meine Aufmerksamkeit ist durchaus sehr hoch. Der Fachbegriff dafür ist "Hypervigilanz bei Trauma".  Ich nehme viele Dinge wahr, das zeigt mir die Erfahrung immer wieder, die anderen entgehen. Doch diese Wahrnehmung beschränkt sich vor allem auf das Außen. Es ist ein permanentes Scannen nach Unwägbarkeiten, nach Gefahren. Das System ist in dauerhafter Alarmstellung. Vor der Therapie nahm ich meinen eigenen Bezug zur Welt wenig wahr. Ich habe selten hingeschaut, wie es mir selbst eigentlich geht und habe zum großen Teil auch verlernt (es nie gelernt?), meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Wenn jedoch die Verbindung "Ich" und "Außenwelt fehlt, kann man immer nur auf alte Muster zurückgreifen, weil keine neuen Erfahrungen möglich sind. Man kann die Perspektive nicht wechseln, kann keine neue Beurteilung der Situation vornehmen. Man kann wohl den Regen in all seinen Facetten spüren, wie stark er ist, wie windig es ist, seine Temperatur. Der eigene Aspekt fällt jedoch weg. So greift man in einem solchen Moment automatisch auf das alte Muster "Regen = unangenehme Nässe" zurück.

 

Verweile im Hier und Jetzt

 

Der Daila Lama sagt, Achtsamkeit bedeutet, dass wir ganz bei unserem Tun verweilen, ohne uns ablenken zu lassen.

 

Hier dreht sich die Perspektive, die Wahrnehmung gegenüber der Hypervigilanz, der Beobachtung des Außen, sondern die Wahrnehmung bezieht sich auf das eigene Ich und seine Interaktion mit der Welt. Das erlaubt einen höheren Handlungsspielraum und damit immer auch mehr Kontrolle über den Moment. So kann ich feststellen, dass es wohl regnet, mich das aber momentan gar nicht stört. Ich kann feststellen, es regnet und ich habe einen Schirm dabei. Oder es schüttet und ich sollte einen Unterschlupf finden.

 

Achtsamkeit nimmt sich Zeit

 

Das geht nicht von heute auf Morgen. Alle Module sind nicht nur auf Veränderung angelegt, sondern erlauben Entwicklung und Wachstum. Das sollte man bei der Eigeneinschätzung immer im Blick haben. Und diese Entwicklung verläuft oft langsam, für einen selbst kaum spürbar. Darum ist es sehr wichtig, seine Fortschritte zu dokumentieren und immer wieder einen Blick darauf zu werfen, dass sich etwas getan hat.

 

Beim Spazierengehen achte ich heute nicht mehr nur misstrauisch und ängstlich auf die Menschen um mich, fürchte nicht mehr, ich könnte in Situationen kommen, die ich nicht bewältigen kann. Meine Aufmerksamkeit gehört den Gänseblümchen am Wegesrand ebenso wie meiner Person. Wie ist meine Atmung? Wie viel Kraft habe ich noch? Was sind meine momentanen Bedürfnisse? Ich wechsle nicht mehr grundsätzlich die Straßenseite, weil mir jemand entgegen kommt, weil ich mich einschätzen kann. Weil ich spüre, ich kann kurz grüßen, und wird es mir doch zu eng, kann ich ausweichen. Ich kann die Situation kontrollieren.

 

Ich denke, Achtsamkeit ist dem Menschen gegeben und wir alle haben irgendetwas im Fokus. Entscheidend ist, wie die Verbindung des Ichs mit der Außenwelt funktioniert. Und da kann man lernen, seine Achtsamkeit zu steuern.

Drei Regeln der Veränderung: Üben, üben, üben

Es ist nie leicht, seine Gewohnheiten zu verändern. Da kann man jeden Raucher fragen, und wir alle kennen den Erfolg der Neujahrsvorsätze. Sich die Dinge vorzunehmen, ist der erste Schritt. Aber immerhin schon mal ein Schritt.

 

Was hilft?

  • Prioritäten festlegen
  • Kleine Schritte vornehmen
  • Positiv formulieren
  • Sich Rückfälle gestatten
  • Sich Zeit nehmen

Ich habe versucht, Änderungen immer an Gewohnheiten zu hängen. Atemübungen morgens beim Aufwachen, abends beim Einschlafen. Beim Essen eine Mahlzeit am Tag bewusst zu sich nehmen. Auf dem Weg zum Bus/Supermarkt/zur Arbeit die Schritte zählen. Man darf es sich einfach machen, zum Beispiel sich die Uhr zu stellen. Das Skillsforumlar offen auf dem Nachtisch liegen lassen mit einem Stift daneben. Und ganz wichtig: Sich nicht selbst den Spaß verderben. Nichts muss, alles kann. Man geht an die Grenze, wenn möglich einen Schritt darüber und belohnt sich für den Erfolg. So bin ich gut vorwärts gekommen.

 

Übung Wahrnehmen

Um meinen Platz in der Welt wahrzunehmen, im Hier und Jetzt anzukommen und mich nicht mehr losgelöst oder wie ein Alien zu fühlen, sich vor allem nicht im Wust der Gefühle zu verlieren, braucht das Gehirn Sinneseindrücke. Es gestaltet darüber sozusagen eine Landkarte.

 

Einmal am Tag eine Mahlzeit in aller Ruhe und mit Achtsamkeit einnehmen (man kann übrigens auch mit einmal die Woche beginnen).

 

Zuerst auf dem Stuhl ankommen. Gerade sitzen, die Augen schließen, spüren, wie stehen meine Füße auf dem Boden, berühren meine Unterschenkel die Stuhlbeine, die Oberschenkel die Sitzfläche, der Rücken die Lehne? Wo sind meine Arme? Den Weg noch einmal gedanklich zurückgehen, schauen, ob sich etwas verändert hat.

Übung Teilnehmen

Teilnehmen, vollständig anwesend sein, sich ganz in der Situation zu befinden, fällt vielen Borderline-Betroffenen schwer. Man hört oft den Ausdruck: "Ich fühle mich wie ein Alien!".

 

Mal ganz im Augenblick versinken, das habe ich zu Beginn häufig beim Abwasch des Geschirrs geübt. Hinfühlen. Wie ist die Temperatur des Wassers? Wie fühlt sich der Schwamm in der Hand an? Wie löst sich der Schmutz auf? Wie verändert sich das Wasser? Wie staple ich das Geschirr im Korb?

Übung Nicht Bewerten

Taxieren, begutachten, einschätzen, die Situation gar benoten, das kennen die meisten Borderline-Betroffenen.

 

Bevor man damit beginnt, das "nicht bewerten" zu üben, kann man damit beginnen, sich in verschiedenen Situationen anzuschauen, wie viel man eigentlich bewertet.

 

In einem Café sitzen und die Menschen in der Umgebung beobachten. Was ist reine Beobachtung und wo bewerten wir schon? Wie fühlt sich das an, ob ich nur beobachte oder bewerte?